Der Kunsttheoretiker Konrad Fiedler, Wegbereiter einer ästhetischen Phänomenologie des Sehens im 19. Jahrhundert, hat die Welt (in der Terminologie seiner Zeit: Natur), der sich der Künstler nähert, als ein „ungeheures und buntes Gewirr von Wahrnehmungen und Vorstellungen“ beschrieben, die „auftauchend und verschwindend, bald an unserem äußeren, bald an unserem inneren Auge vorüberziehen"; er spricht von Wahrnehmungen, die sich uns aufdrängen und doch zugleich auch wieder entgleiten, wenn der Verstand sie in Begriffe fassen will (Der Ursprung der künstlerischen Tätigkeit, 1887, S. 187). Erst die Kunst vermag es, so Fiedler, die Bilder von Wirklichkeit, die in unserem Kopf entstehen, mittels der ihr zu Verfügung stehenden gestalterischen Mittel adäquat zu evozieren. Sie trägt damit zum Verstehen und Verarbeiten von Wirklichkeit bei, und darin liegt ihr besonderes Vermögen.
Aus der Distanz gesehen, ergibt die
Arbeit „capriccio
I" ein vielfarbiges Gewimmel: Vertikale Linien
in bunter Farbigkeit, unterschiedlich lang aber annähernd
gleich breit, füllen dicht gedrängt den
Bildvordergrund und lassen nur vereinzelt die horizontalen Elemente
einer „tieferen“ Lage von Streifen erkennen. Die
enge syntaktische Struktur des Bildes, das dichte Zusammenspiel von
Linien, Flächen und Farben, erinnert an ein textiles Gewebe.
Schon Leon Battista Alberti, der erste Theoretiker des
zweidimensionalen Tafelbildes in der Renaissance, griff auf das Modell
einer Textilie zurück, um das Verhältnis von Linie
und Fläche im Bild zu definieren:
„Mehrere
nebeneinanderliegende Linien bilden eine Fläche,
ähnlich wie mehrere Fäden ein Gewebe. Eine
Fläche ist also ein bestimmter äußerster
Teil des Körpers, die man nicht an so etwas wie Tiefe erkennt,
sondern nur an ihrer Länge und ihrer Breite und zudem an ihren
Eigenschaften" (Über die Malkunst, 1436, S. 67f.).
capriccioI, Acryl auf Leinwand, 200x300cm / acrylic on canvas, 79x118in, 2002
Auch die dicht nebeneinander gelegten
Linien in „capriccio I" betonen
die Flächigkeit des Bildes und lassen – trotz
unterschiedlicher Farbigkeit und Breite der Streifen – an ein
dichtes Gewebe denken. Doch der Eindruck der Textur schwindet, umso
mehr der Betrachter sich der großformatigen Leinwand
nähert. Obwohl die Oberfläche in einer
„All-over“-Struktur gleichmäßig
mit Linien und Streifen überzogen ist, sind nicht alle
vertikalen Linien über die gesamte Höhe des Bildes
geführt ist. Vielmehr enden die bunten Streifen, einer
geheimen Gesetzmäßigkeit folgend, oft unvermittelt
schon im ersten oder zweiten Drittel des Bildes. Die klar konturierten
Liniengerüste sind zudem so häufig
überarbeitet worden, dass vielerorts nur noch die
Schnittstellen vorangegangener Horizontalen und Vertikalen von den
darunter liegenden Lagen zeugen. In unzähligen
Überschneidungen durchdringen sich die Farbstreifen
gegenseitig. Aber obwohl die Streifen und Balken asymmetrisch verteilt
sind, wirkt die Bildstruktur geschlossen und harmonisch. Die
Überlagerungen erzeugen keine Verwirrung, sondern erinnern
eher an die Rhythmik atonaler Musik, die mit seriellen Reihungen ebenso
arbeitet wie mit Variationen und Auslassungen. Aus dem
Vielfältigen und Zufälligen konstruiert Stefan Ssykor
im Akt des Malens ein fragiles Gleichgewicht, das durch die Balance der
Teile zum Bildganzen und der Bildteile untereinander getragen wird.
Auch in dem Dyptichon „Die
Auffindung des Moses" geht es wieder um
Kontraste und Balance innerhalb des Bildganzen. Doch hier ordnet der
Künstler die horizontalen und vertikalen Streifen
offensichtlich nach anderen Gesetzen: nun lassen sich Farbgruppen als
Systemeinheiten erkennen und die variierende Länge der
Streifen schafft proportionierte Körper von unterschiedlichem
Ausmaß. Auch ordnet das Auge die lasierenden, malerischeren
Partien dem Hintergrund zu, während sich die scharfkantigen
und plakativ ausgemalten Vertikalen in Rot, Gelb und Blau in den
Vordergrund drängen. Der Titel weist darauf hin, dass das
ordnende Prinzip hier die Komposition eines anderen Malers vorgab:
Giovanni Battista Tiepolo schuf um 1736/38 das Gemälde
„Die Auffindung des Mosesknaben", ein
großformatiges und lang gestrecktes Historienbild, das die
biblische Szene aus der Kindheit des Moses in einer weiten
Flusslandschaft präsentierte. Ungewöhnlich ist die
ursprüngliche Komposition des Bildes: Die Hauptgruppe um die
Tochter des Pharaos, ihr Gefolge und den Säugling herum war
vom Maler so weit in das linke Bilddrittel des ursprünglich 5
m breiten Gemäldes geschoben worden, dass das eigentliche
Bildzentrum der langen Leinwand leer blieb. Am
äußersten rechten Bildrand hingegen fand sich,
allein in weiter Landschaft, unvermittelt die Figur eines einzelnen
Hellebardiers mit seinem Hund. Die asymmetrische Komposition mit einer
Leerstelle im Mittelpunkt wirkte für die Zeitgenossen so
irritierend, dass das Bild noch im 18. Jahrhundert in zwei ungleiche
Teile zerschnitten wurde. So erhielt die narrative Hauptgruppe des
Bildes, die heute in der National Gallery of Scotland zu sehen ist,
wieder eine traditionelle Mittelbetonung, während die gekappte
„Landschaft mit Hellebardier“ als Fragment in einer
Turiner Privatsammlung überdauerte.
Die Auffindung des Moses, Acryl auf Leinwand, 190x310cm, 2002-05
Das Gemälde von Stefan Ssykor
beschäftigt sich mit der erhaltenen Hauptgruppe von Tiepolos
Gemälde, deren Figurationen die vertikalen Linien im
Bildvordergrund nachzeichnen. Auch die Farbgebung orientiert sich am
barocken Original: Die in Gelb gekleidete Pharaonentochter steht
– etwas erhöht – im Zentrum der
Komposition, die Personen ihres Gefolges sowie die von links
heraneilenden Miriam tragen blaue Gewänder, während
am linken Bildrand ein einzelner Diener in leuchtendroter Tunika
auftritt. Doch sind diese narrativen Elemente nun zu bloßen
Farb- und Formwerten abstrahiert, deren optische Staffelung die
erzählerischen Strategien des Barockmalers erkennen lassen:
Tiepolo legte das Gewicht der Darstellung nicht auf eine
geschlossen-hierarchische Komposition, sondern favorisierte einen
rhythmischen Handlungsverlauf in Intervallen und einen
fließenden Wechsel zwischen geballter Handlung und freier
Naturschilderung, die in dem Bild von Stefan Ssykor als diffuse
braun-grüne Partien rund um die grellfarbigen Hauptformen in
Erscheinung tritt. Wolfgang Ullrich hat gezeigt, dass die bildnerische
Unschärfe eines der etablierten Stilmittel der Kunst ist, um
Dynamik und Bewegung ins Bild zu setzen (Geschichte der
Unschärfe, 2002). Stefan Ssykor gelingt es über die
Unschärfe, nicht nur die innerbildlichen Gewichtungen, sondern
auch das Prozessuale der Wahrnehmung eines solchen Bildes anschaulich
zu vergegenwärtigen. Zudem schreibt auch das von ihm
gewählte Bildformat die malerische Rezeptionsgeschichte weiter
fort: Er zerschneidet die bereits gekappte Komposition erneut in zwei
Bildteile, um das proportionale Verhältnis der beiden
Bildteile wiederum anschaulich zu untersuchen.
Bilder sind Prozesse
Zwei Hilfsmittel sind für die Bilder von Stefan Ssykor unerlässliche Voraussetzung: der Computer und die Digitalkamera. Die Bedingungen von Malerei im Zeitalter digitaler Medien sind das Grundthema seiner Arbeit und wie viele Künstler seiner Generation nutzt er den Computer nicht nur als Skizzenbuch, sondern auch als Fortbewegungsmittel in einer virtuellen Welt, die einen unerschöpflichen Bilderfundus der Gegenwart stellt. Der Umgang mit digitalen Medien bringt per se neue Bilderfahrungen mit sich, die auch für den Laien unschwer nachvollziehbar sind: Jeder Computernutzer kennt den magischen Moment, in dem sich die datenreichen Bilddateien auf dem Bildschirm Pixel um Pixel zusammensetzten, und aus vielen farbigen Vierecken plötzlich lesbare Darstellungen werden. Umgekehrt ermöglichen es Bildbearbeitungsprogramme, so tief in eine Abbildung hineinzuzoomen, bis nur noch bunte Quadrate die groben Koordinaten eines Motivs erahnen lassen. Die prozessuale Wahrnehmung löst das statische Bild als Gegenüber ab, und auch diese Form der Wahrnehmung von Wirklichkeit findet ihre Parallelen in der Geschichte der Kunst.
Als im 19. Jahrhundert die Eisenbahn erfunden wurde, veränderte sie nicht nur das Tempo des Reisens, sondern auch den Blick auf die Wirklichkeit. Die ungewohnt hohe Geschwindigkeit des neuen Fortbewegungsmittel eröffnete eine ganz neue Form der Wahrnehmung von Landschaft, die, wie es der französische Dichter Victor Hugo in einem Brief von 1837 schildert, beim Blick aus dem Zugfenster plötzlich malerisch-abstrakte Züge aufwies:
„Die Blumen am Feldrain sind
keine Blumen mehr, sondern Farbflecken, oder vielmehr rote oder
weiße Streifen; es gibt keinen Punkt mehr, alles Streifen;
die Getreidefelder werden zu langen, gelben Strähnen; die
Kleefelder erscheinen wie lange grüne Zöpfe; die
Städte, die Kirchtürme und die Bäume
führen einen Tanz auf und vermischen sich auf einer
verrückten Weise mit dem Horizont; ab und zu taucht ein
Schatten, eine Figur, ein Gespenst an der Tür auf und
verschwindet wie der Blitz, das ist der Zugschaffner“ (in:
Ullrich 2002, S. 86).
Bilderzyklus: Deutsche Bahn, Karlsruhe, 2003
In den Augen Hugos lösen sich
die Gegenstände in der Geschwindigkeit auf, Felder und Wiesen
schieben sich ohne räumliche Orientierung zu
„Streifen“ zusammen, vor deren Kontrastfolie die
schemenhaften gestalten von Mitreisenden erscheinen. Diese Modifikation
der Wahrnehmung durch Bewegung beschäftigt auch Stefan Ssykor
immer wieder, wobei er sich dem Thema von unterschiedlichen Seiten her
nähert.
Der Zyklus von 19 Gemälden, der im Januar 2003 in dem Verwaltungsgebäude der Deutschen Bahn in Karlsruhe öffentlich zugänglich gemacht wurde, knüpft an die Thematik von bewegtem Subjekt und seinem Blick auf ruhende Objekte an und sucht die Grenzlinie bewegten und statischen Bildern zu ermitteln. Im Foyer des Gebäudes hängt gegenüber der Eingangstür ein großformatiges Dyptichon, das den Blick aus einem Fenster assoziieren lässt. Auf einer ersten Ebene zeigt das Bild klar konturierte rechteckige Baukörper, die, wenngleich auch immer wieder von kleineren Elementen überlagert, einen statischen Zustand vermitteln. Auf einer zweiten, vorgeblendeten Malebene ziehen sich schmalere horizontale Streifen von links nach rechts durch das Doppelbild, die an vielen Stellen noch den Durchblick auf die dahinter liegenden Objekte ermöglichen. Das sehr großzügig eingesetzte Hellblau verstärkt den Eindruck eines Ausblicks, und die fließenden, diffusen Streifen werden so unweigerlich als Indizien für Bewegungsunschärfe gelesen: nahe gelegene Objekte verflüchtigen sich in opake Farbschlieren, während der Blick in die Ferne klare Formen im Raum erkennbar werden lässt. Die alte Definition vom Bild als Fenster, welche die Renaissance für das Tafelbild fand, bekommt so eine ganz neue Aktualität. Denn Stefan Ssykor spielt mit der Dialektik zwischen Form und Erfahrung, indem er mit malerischen Mitteln Bilder auftauchen und wieder verschwinden lässt. Neben der Unschärfe ist es vor allem die Fülle der eingesetzten bildnerischen Möglichkeiten, der rasche Wechsel von Formen, Farben und Perspektiven im Bild, die das Gefühl von Bewegung aufkommen lässt. Die Dynamisierung des Bildraums offenbart ihre besondere Wirkung im Akt der Rezeption: Die Bilder von Stefan Ssykor offerieren die Möglichkeit, Schnelligkeit als Wahrnehmungsphänomen im Betrachten der Malerei langsam zu erleben.
In der Ausstellung „Salon
Salder“ in Salzgitter zeigte Stefan Ssykor im September 2003
erstmals ein Bildpaar, „Ph0203/0303“
, dass die Phänomenologie der Bewegung mittels der Variation
eines einzelnen Bildmotivs vorführt. Zwei kleine Tafelbilder,
die sich von Komposition und Bildelementen her zunächst zu
ähneln scheinen, sind doch bei näherer Betrachtung
durchaus unterschiedlich. Trotzdem bleibt der Eindruck, hier zwei
Varianten eines Bildes vor sich zu haben und einen bekannten Ausschnitt
um winzige Nuancen verändert vorzufinden. Diese Wahrnehmung
entspricht unserer ästhetischen Erfahrung mit bewegten Bildern
ebenso wie der Alltagserfahrung des Blicks aus dem Fenster, der uns nie
das gleiche Abbild der Wirklichkeit liefert wie die Male zuvor.
Ph0203/0303, Acryl auf Leinwand, 86x270cm, 2teilig, 2003
Jede Grundordnung ist
eine Raumordnung
Der Mensch strukturierte seine Welt in Räume, um sie zu ordnen: in gebaute Räume, soziale Räume, dargestellte Räume, erzählte Räume, virtuelle Räume. Der architektonische Raum ist ein von Baukörpern oder von Oberflächen raumbildender Konstruktionen (z.B. Wände) begrenzter und dadurch sinnlich wahrnehmbarer Teil im Inneren eines Baukörper, diese umbauten Räume bilden selbst wiederum einen umgrenzten Raum im urbanen Gefüge.
Stefan Ssykor beschäftigt sich mit der Geometrie urbaner Architektur, seine Bilder lassen häufig an architektonische Phantasien oder die Impressionen moderner Stadtlandschaften denken. Die immer parallel zum Rahmen geführten Linien, Balken und Rechtecke evozieren Elemente klassischer Architektur – etwa Säulen, Pilaster und Architrave –, während die Transparenz mancher Flächen an Glas als modernen Baustoff denken lässt. So entstehen eigenständige Formwirklichkeiten und Raumrealitäten, die Durchblicke eröffnen, Architektur andeuten und doch zugleich geometrisch-abstrakt sind. Der Maler Juan Gris, einer der führenden Künstler des synthetischen Kubismus, wählte für eine solche Verzahnung von Form und Inhalt wiederum das Bild der Textilie:
„Die Malerei ist für mich ein Gewebe, bei dem die Längsfäden der darstellende Teil sind, die Querfäden der architekturale oder abstrakte Teil. Diese Fäden halten sich gegenseitig, und wenn die Fäden einer Seite fehlen, dann ist kein Gewebe möglich“ (in: Scheer 1995, S. 40).
Auch in den Bildern von Stefan Ssykor halten sich Wirklichkeitsbezug und Konstruktion so kunstvoll die Wage, dass die Werke die dem Bildbetrachter die Entscheidung nicht abnehmen, ob er Abstraktion oder vielleicht doch die Abbilder realer Räume vor sich hat.
Die dezidierte Auseinandersetzung mit
Architektur und einem baulichen Kontext weist die
„Wandarbeit" auf, die Stefan Ssykor 2003
für das Restaurant „Raffinerie Dannenfeld"
in Braunschweig schuf, das sich in dem Gebäude einer
ehemaligen Zucker-Raffinerie befindet. Der über zwei Geschosse
geöffnete Gastraum, dessen steinsichtige Wände das
Backsteinmauerwerk der um 1900 errichteten Fabrik sehen lassen, wurde
von dem Architektenteam ft+ eingerichtet. Das gestalterische Leitmotiv
war der fließende Übergang von Räumen, das
sich von der offenen Lounge des Eingangsbereichs bis zum amorphen
Separée im Zentrum des Gastraums verfolgen lässt.
Über den Köpfen der Gäste ragt –
vergleichbar der Brücke eines großen Schiffes
– die Glasfront des Küchenraums in den Speisesaal
hinein. Während letzterer mit seiner indirekten Beleuchtung
und dem Rotbraun des Mauerwerks eine behagliche Atmosphäre
vermittelt, strahlt die Neonbeleuchtung des hygienisch weißen
Arbeitsraums durch ein wandbreites Panoramafenster unmittelbar in den
Gastraum hinein. Die Idee, diese prominente gläserne
„Fuge“ im Raum zum Schauplatz
künstlerischer Interventionen zu machen, erwies sich als
fruchtbringendes Projekt.
Wandarbeit, Dannenfelds, ARTMAX Braunschweig, 2003
Stefan Ssykor thematisiert in seiner
ortsspezifischen Malerei in der „Raffinerie
Dannenfeld" die problematische Nahtstelle zweier
antithetischer Räume, indem er mit malerischen Mitteln weitere
räumliche Ebenen einblendet, die – unter Nutzung der
architektonischen Vorgaben wie der Fenstersprossen – eine
neue Raumrealität erschafft. Die Malereien auf Glas zeigen
eine virtuelle Architektur aus unterschiedlichen Bauteilen in Rot, Blau
und Grün, die ansatzweise in einem perspektivischen Tiefenraum
situiert ist. So bilden sich fünf gerahmte Felder, in denen
sich von links nach rechts aus dem Ansatz paralleler Streifen das
Panorama einer fiktiven Architektur entwickelt. Blaue und rote
Baukörper mit offenen Fenstern überschneiden sich
dort, diagonale Verkürzungen deuten einen perspektivischen
Tiefenraum an. Das gleißende Licht des dahinter liegenden
Küchenraums fällt nun durch die
Fensteröffnungen der gemalten Architektur, und verzahnt so die
Bildrealität mit dem gebauten Kontext. Obwohl mit dem Aufbruch
in die Moderne zu Begin des 20. Jahrhunderts die perspektivische
Darstellung von Architektur erst einmal obsolet geworden war, erlebt
die perspektivische Raumillusion in der zeitgenössischen
Malerei eine neue Aktualität. Die Erklärung liefert
wiederum die Referenz auf die digitalen Medien: Auch virtuelle
Räume werden perspektivisch angelegt, da sie sonst nicht als
Simulationen dreidimensionaler Gebilde rezipiert werden (vgl. Kat.
Painting Pictures, Kunstmuseum Wolfsburg 2003, S. 13). Doch der
illusionistische Raum in den Bildern von Stefan Ssykor ist nicht nur
einer, sondern viele: Fluchtlinien widersprechen sich, Perspektiven und
Formationen überlagern sich, und keine ordnende Metastruktur
bietet dem Auge die Chance, sich die „Ordnung der
Dinge“ auf Anhieb zu erschließen..
Die Renaissance hatte das Bild als Schnitt durch die Sehpyramide definiert, an deren Spitze das Auge des Malers/Betrachters als Fixpunkt eines geometrischen Bildordnungsverfahren stand. Der Konsistenzplan heutiger Malerei kennt weder Subjekt noch Objekt: Die Bilder von Stefan Ssykor präsentieren viele unterschiedliche Perspektiven, nicht ein allsehendes Auge, sondern die Summe der Erfahrung von vielen Betrachtern geben die vernetzten Strukturen seiner Bildwelten wieder. Gilles Deleuze und Félix Guattari haben für das „Prinzip der Vielheit" das Bild des Rhizom gewählt, eines büscheligen Wurzelsystems, dessen Vielzahl von Nebenwurzeln und Strängen die verwebten Strukturen eines chaotischen Systems veranschaulichen. Charakteristisch für das Rhizom ist der Verlust der Gesamtperspektive, denn „eine Vielheit hat weder Subjekt noch Objekt; sie wird ausschließlich durch Determinierungen, Größen und Dimensionen definiert, die nicht wachsen, ohne daß sie sich dabei gleichzeitig verändert (die Kombinationsgesetzte wachsen also mit der Vielheit)" (Deleuze/Guattari, 1977, S. 13). Der Künstler wird so zum Verwalter vieler Diskurse, zum Bestandteil eines kommunikativen Netzwerks, dessen transitorischen Charakter die Bilder von Stefan Ssykor anschaulich vorführen.
Mila Horky
- Leon Battista Alberti, Della Pittura /
Über die Malkunst [1435/36], Darmstadt 2002
- Gilles Deleuze / Félix Guattari, Rhizom, Berlin 1977
- Konrad Fiedler, Über den Ursprung der
künstlerischen Tätigkeit [1887], in: Schriften zur
Kunst, Bd. 1, München 1991
- Kat. Painting Pictures, Malerei und Medien im digitalen Zeitalter,
Kunstmuseum Wolfsburg 2003
- Thorsten Scheer / Anja Thomas-Netik, Piet Mondrian, Komposition mit
Rot, Gelb und Blau, Frankfurt am Main / Leipzig 1995
- Wolfgang Ullrich, Die Geschichte der Unschärfe, Berlin 2002